„Bones and All“ Kritik: Die blutigste Romanze des Jahres

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Sie liegt auf dem Boden des Zimmers, still und kaum beweglich. Ihr Blick ist sanft, fast unschuldig. Neben ihr liegt ein Mädchen, das so tut, als interessiere es sich für die Ereignisse in ihrer Vergangenheit. Aber Maren weiß selbst, dass sie ihr nur etwas vormacht. Sie erinnert sich kaum noch an sich selbst. Und die Bruchstücke, die ihr Gehirn noch zusammensetzen kann, sind Erinnerungen, die andere in ihrem Alter nicht haben. Das unbekannte Mädchen will ihr den frisch lackierten Nagellack zeigen – das Orange gefällt ihr überhaupt nicht, aber Maren hat keine Augen dafür. Sie spürt plötzlich dieses Bedürfnis, dieses Verlangen, das sie lange und tief in sich vergraben hat. Und dann passiert es: Sie kann sich nicht beherrschen, sie muss diesen Hunger stillen. Deshalb brechen ihre Zähne hervor und sie kann es schmecken, das Blut, die Knochen, alles. Erst da merkt Maren wirklich: Sie ist nicht wie alle anderen, sie ist eine Esserin.

Copyright : © Metro-Goldwyn-Mayer

Luca Guardagninos neuester Film „Bones and All“ ist eine Liebesgeschichte mit einem ganz besonderen Geschmack. Seine Protagonisten, Maren und Lee, müssen sich nicht wie andere Teenager mit ihrer Selbstfindung auseinandersetzen. Nein, sie haben es bereits getan. Sie wissen genau, wer sie sind und dass sie vor unkontrollierbarem Kannibalismus nicht zurückschrecken können. So begeben sich die beiden gemeinsam auf eine Reise durch das Landesinnere der Vereinigten Staaten, begleitet von wunderschönen Landschaftsaufnahmen und Sonnenuntergängen und einem unvergesslich melancholischen Soundtrack von Atticus Ross und Trent Reznor.

Am stärksten fand ich den Film in den Horrormomenten, in denen sich das Grauen am Körper festsetzt und einem die Haare zu Berge stehen lässt. Es gab mehrere Momente, in denen ich fast aus meinem Sitz aufgesprungen bin, weil ich nicht glauben konnte, welche moralischen Werte diese Figuren vertreten. Man riecht plötzlich auch das Fleisch, spürt das Ungeziefer auf der Haut und ist völlig eingelullt von der Natur und den Überlieferungen eines Killers. Gepaart mit der Liebesgeschichte ergibt sich jedoch ein zweischneidiges Schwert: Die Genreübergänge konnten mich leider nicht satt machen, was vor allem daran lag, dass ich beim Zuschauen das Gefühl hatte, dass viel Charakterentwicklung aus dem Buch für den Film gekürzt wurde und vor allem der Liebesaspekt darunter gelitten hat.

Copyright : © Metro-Goldwyn-MayerWährend die erste Hälfte vor allem durch einen unglaublich gruseligen Mark Rylance getragen wird, mit Taylor Russell und Timothée Chalamet dicht dahinter, wurden die Charaktere über die Laufzeit schneller verraten, als der Film zugeben wollte. Taylor Russells Maren begibt sich auf diese Reise mit einfach recht präzisen Charaktermotivationen, und nachdem dieser Plotpunkt abgehakt ist, könnte man meinen, diese Reise nähere sich ihrem Höhepunkt. Schließlich will Maren sich ändern und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Sie kann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Aber es kommt, wie es kommen muss, und der Kreislauf geht weiter. Der große kartesische Moment ist auch weniger eine Offenbarung, als er sein will, denn wenn man Figuren mit solch teuflischen Leitmotiven folgt, weiß man, mit welchen Dämonen der Vergangenheit sie zu kämpfen haben und wohin ihre Reise gehen wird.

„Bones and All“ ist ein Film, den ich gerne zu meinem persönlichen Highlight des Jahres gekürt hätte, aber für mich gibt es nach der Sichtung noch zu viele unbeantwortete Fragen zum Drehbuch. Dennoch muss jede schauspielerische Leistung, unabhängig von der Leinwandzeit, unbedingt hervorgehoben werden. Und solch originelle und außergewöhnliche Konzepte muss man so oder so für ihren Mut und ihre Unerschrockenheit bewundern. Trotz der Probleme, die ich hatte, bin ich froh, dass die meisten Leute diesen Film komplett verschlingen können.

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