„Poor Things“ Essay: Das freibestimmte und unzenzierte Leben der Bella Baxter

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Yorgos Lanthimos fängt da an, wo die meisten anderen Filmschaffenden bereits aufgehört haben. Er scheut sich nicht davor, unkonventionelle Ideen zu nehmen und sie so originell zu verpacken, dass sie ein Eigenleben entwickeln – ganz so, als würde ein Fremdkörper plötzlich anfangen, sich zu etwas neuem zu formen. Wer noch keinen Film des griechischen Weid-Wave-Regisseurs Yorgos Lanthimos gesehen hat, sollte dies vor Poor Things tun, denn Lanthimos‘ Filmstil ist kontrovers und unverblümt. Seine Figuren sprechen oft in einem trockenen Tonfall, ihre Tragödien sind ironisch komisch gemeint, und er dreht oft mit einer Fisch Augen Kamera. So wird in „Poor Things“ nicht nur die Titelfigur Bella Baxter zum Leben erweckt, sondern auch der Zuschauer wird auf eine Odyssee mitgenommen, die die Menschlichkeit eines jeden ausmacht. Dieser Film ist weit mehr als eine Frankenstein Geschichte oder im schlimmsten Fall ein Softporno – Bella Baxter ist das Ebenbild einer jeden Frau; Dinge die uns ausmachen und die wir erreichen wollen – wir wollen auf mehr reduziert werden, als auf unsere Körper oder das Kind, dass in uns selbst schlummert – aber gibt es da draußen wirklich eine Welt, die man genießen kann?

 

Emma Stone spielt Bella Baxter, eine wiederbelebte, von den Toten zurückgeholte Frankensteins Monster-Kreation ihres Vormunds, Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe). Bella ist eine junge Frau, die versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, indem sie sich von der Tower Bridge in London stürzte. Baxter holt ihren fast toten Körper im Schutz der Dunkelheit aus dem schlammigen Ufer der Themse und reanimiert sie mit Methoden, deren exotische Grausamkeit für Aufruhe sorgen. In Mary Shelleys Frankenstein-Roman wird eine Kreatur aus verschiedenen, aus Gräbern gestohlenen Körperteilen wiedererweckt und mehr oder weniger als neugeborener Säugling in einem erwachsenen Monsterkörper dargestellt. Poor Things geht noch einen Schritt weiter und lässt das Gehirn von einem buchstäblichen Säugling stammen.

Im ersten Teil des Films ist Bella eine Außenseiterin, die ihre Tage damit verbringt, mit Händen und Füßen atonal auf einem Klavier zu klopfen, für den Moment zu leben, in dem ihr God durch die Tür kommt, und zusammenzubrechen, wenn er sich verabschiedet. Godwin Baxter fühlt sich verpflichtet, dieses naive Wesen zu schützen, das als rein wissenschaftliches Experiment begann, aber zu einem Ersatzkind geworden ist. Er wählt einen seiner Studenten Max McCandles (Ramy Yousssef), aus, um Bellas Entwicklung zu beobachten und aufzuzeichnen. Sie lernt von Tag zu Tag mehr Wörter; sie findet heraus, wie ihre Gliedmaßen funktionieren.

Und auch sie entdeckt Gefühle, die sie noch nie zuvor hatte. Eines Nachmittags schnappt sie sich einen Apfel vom Tisch und beginnt ungestüm, sich selbst zu befriedigen. Das ist großartig für sie, aber im viktorianischen Sinne bedeutet ihr aufblühendes sexuelles Verlangen tatsächlich die Erschaffung eines Monsters. Wichtig ist es zu erkennen, dass Bella schneller reift als andere Menschen. Anfangs ist der Film fast nur schwarzweiß, mit der Emanzipation der Hauptfigur wird er vollends farbig. Sie muss bei allem bei Null anfangen – wie man geht, wie man spricht, wie man sich in der Welt zurechtfindet. Die Figur fängt nicht als Kind an, Sex zu haben – im Sinne der Wissenschaft ist alles möglich und entspricht nicht einer Entfaltung nach Norm. Ein absurder Gedanke – wenn man hinterfragt – wieso jemand, der mental ein so junges Alter mit sich trägt – sexualisiert und sogar wie im späteren Verlauf des Filmes sichtbar wird, sich prostituiert – aber sind wir mal ehrlich: „Poor Things“ mag zwar in einer viktorianischen Streampunk Version von Europa spielen, aber im Kern ist der Körper jeder Frau Angriffsfläche – egal, wie alt diese ist.

Eine Oscar-Preisträgerin wie Stone in solch eine Rolle schlüpfen zu sehen und die wahrscheinlich wagnisreichste, wenn auch jetzt schon gefeiertste Rolle ihrer Karriere schlüpfen zu sehen, mag auf den ersten Blick unwirklich wirken. Schließlich reden wir hier von Gwen Stacey aus „The Amazing Spider-Man“ oder haben ihre Rolle als Olive Pendergast aus „Easy A“ im Kopf, als manchmal brave oder nicht ganz so unschuldige Teenagerin und nun eine ganz Dekade später zeigt uns Stone – nun ja, alles. Und es gibt einen Grund dahinter: Es ist ihr Kollaborateur selbst, bei dem sie komplett die Hüllen fassen kann. Bereits in ihrer letzten Zusammenarbeit „The Favourite“ hat man erleben können, dass die Schauspielerin bereits ihre Komfortzone verlässt.

Während der Dreharbeiten beschloss Stone, ihre Rolle auf die Spitze zu treiben, indem sie sich ihrer Kleidung entledigte. Da es ihre eigene Entscheidung war, empfand Stone ihre erste Nacktszene als sehr ermutigend. Und bei „Poor Things“ wird es nicht anders gewesen sein. In den Händen des richtigen Regisseurs, kann man sich in neues Terrain begeben und eine Verwundert zeigen, die kein anderer aus einem heraus kitzeln kann. Und auch in „Poor Things“ zeigen Lanthimos und Stone, dass nicht nur ihre Zusammenarbeit das Potenzial hat legendär zu werden, auch die Schachtzüge von Bella Baxter machen sie zu mit dem komplexesten weiblichen Charakter des Jahres. Nicht nur Lanthimos stellt in Frage, „Wieso gibt es keinen Sex in Filmen?” und beantwortet sie selbst mit einer Menge Sex auf der Leinwand, sondern auch beim Nachdenken fragt man sich: Wieso sind wir so prüde und an das gewöhnt, was der Norm entspricht?

Emma Stone in POOR THINGS. Foto von Atsushi Nishijima. Mit freundlicher Genehmigung von Searchlight Pictures. © 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.

Zur Menschlichkeit und Freiheit gehören nun mal alle Bereiche abgedeckt, einschließlich der Sexualität. Ein Film, der davor zurückschreckt, würde die Hauptfigur verraten und alles was sie ausmacht – es spiegelt nun mal das kindliche wieder und zwar, dass man keinen Scham empfinden sollte. Was fehlt in der Erfahrung von Sex und den verschiedenen Wünschen, die Menschen haben, das wir darstellen müssen, um das menschliche Begehren und seine Eigenheiten ausreichend zu repräsentieren? Leute gehen liberal mit jeglicher Gewalt um und erlauben Minderjährigen, sie in jeglicher Form zu erleben, aber bei Sexualität und insbesondere dem weiblichen Verlangen und der Lust, die durch das Patriarchat oft unterdrückt wird, werden Filme, die aufklären, plötzlich zum Problem ernannt. Bella zeigt keinen Scham über ihren Körper und stellt nicht in Frage wer sie ist, sondern entdeckt und erlebt einfach und das ist etwas, was man sich für uns alle wünschen kann.

Im Kern ist Bella genau das – was die Männer um sie herum sich von ihr wünschen – sie wollen ihre Gunst erlangen und sie ist da, um die Bedürfnisse eines Mannes zu befriedigen – ganz im Sinne, der wahre Feind ist am Ende immer das Patriarchat.
Wie bereits in Greta Gerwig’s „Barbie“ aus diesem Jahr, steht hier eine weibliche Figur im Vordergrund, die fremdgesteuert kontrolliert wird, aber der „wirklichen Welt“ ausgesetzt wird und beginnt selbstständig zu werden. Beide Charaktere zeichnen sich durch ihre totale Offenheit bei gleichzeitiger totaler Naivität aus – sie streben nach dem Durst nach Gerechtigkeit und wollen herausfinden, wer sie wirklich sind. Und so fordert Lanthimos auch die Gesellschaft und ihre Regeln heraus, die das Normale abnorm erscheinen lassen, er spielt mit der Frage der Moral und geht der größten aller Fragen nach – wer bin ich eigentlich und wieso wurde ich gemacht? Bella Baxter ist eine emanzipierte Frau. Jeder Mann, dem sie begegnet, will sie besitzen oder beherrschen, doch am Ende ist es Bella, die triumphiert.

Filme, die die Gemüter spalten, sind nicht nur eine Quelle der Unterhaltung, sondern auch ein wirkungsvolles Instrument zur sozialen und kulturellen Erkundung. Sie regen den Dialog an, fördern das kritische Denken und spiegeln das komplizierte Geflecht der menschlichen Gesellschaft wider. Sich auf kontroverse Filme einzulassen bedeutet, sich die Vielfalt der Gedanken und Perspektiven zu eigen zu machen, die für das gesellschaftliche Wachstum unerlässlich ist. Während wir uns durch die Komplexität einer sich ständig verändernden Welt bewegen, dienen diese Filme als Spiegel, der unsere kollektiven Werte widerspiegelt und uns anspornt, uns zu einfühlsamen, aufgeschlossenen und verständnisvollen Weltbürgern zu entwickeln.

Im Kern ist „Poor Things“ also weit mehr als nur eine makabere Frankenstein Geschichte mit schwarzem Humor: Es ist eine Coming-of-Age Story. Es ist ein Erwachen – in dem Maße, wie Bella die Wunder und Schrecken der Welt entdeckt, entdecken auch wir sie. Lanthimos zwingt uns, wenn sie gegen die Gesetze des sozialen Verhaltens stößt, zu reflektieren. Es ist unsere Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, zum moralischen Denken und zur Gestaltung unseres eigenen Schicksals durch bewusste Entscheidungen, die uns als Wesen auszeichnet, die zu tiefgreifenden existenziellen Überlegungen fähig sind. Bella Baxter ist das alles. Im Kern ist sie wie jeder einzelne von uns – bloß spricht sie aus, was die Welt für sie ausmacht. Und wir alle sollten uns an solch einem Mut, besonders wenn uns unrecht getan wird, lieber mal ein Beispiel nehmen.

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